Selfcarekritik und Praxis

Tl;dr: Ich hab gedacht, ich sondere nochmal was zu Selfcare ab, da ich mich letztens nicht so qualifiziert dafür fühlte, habe ich mehr meinen persönlichen Zugang geschildert. Jetzt möchte ich was zur Diskussion beitragen und vor allem auf die Kritik von Steinmädchen eingehen.

Mein grösstes Problem mit Selfcarekritik ist nach wie vor die Frage:
– Unklar bleibt: Welche Konsequenzen sollen Menschen daraus für ihr Leben und ihre aktivistischen Zusammenhänge ziehen?

Und dann noch:
– von Selbstfürsorge als Nachhaltigkeitspraxis wird verwechselt mit Selbstfürsorge als Krisenintervention.
– “Check your Privilege” ist beim Thema Selbstfürsorge nicht am Platz. Wer (nicht) gehört wird, ist vielmehr die Frage.
– Etwas, das “zu deinem Besten” getan wird, und dir aufgezwungen wird, ist Gewalt; deshalb kann es aber wirklich “zu deinem Besten” sein, wenn du die Möglichkeit hast, selbstbestimmt den gleichen Weg zu gehen. Es muss getrennt werden zwischen einer Methode und wer sie warum und an wem anwendet.
– die ökonomische Dimension wird zu wenig mitgedacht, und die Kritik an Selfcare richtet sich zu Unrecht an DIY-Selfcare-Texte, und an Individuen.

Selbstfürsorge ist keine Krisenintervention
(Ergänzender Link: Seit ich das schrieb, schrieb Jay im Virtual Retreat Center ebenfalls dazu: Was Selbstfürsorge für mich NICHT ist.)
Wenn das Haus brennt, dann wisch ich nicht den Boden, sondern dann muss die Feuerwehr ran. Genausowenig hilft mir meditieren, Yoga, Spazieren gehen, meine Bedürfnisse klar äussern, Tee trinken, Musik machen, malen… usw. wenn ich in einer Krise stecke. Weil diese Dinge zur “alltäglichen Pflege” gehören, wie Zähneputzen. (was btw ja auch nicht gegen schon vorhandene Kariesschäden hilft)
Was Steinmädchen schrieb, dass das Bedürfnis, “sich dringend die Kante zu geben, etwas anzuzünden oder jemanden zusammenzuschlagen” nicht zur Selbstfürsorge zählt, hängt damit zusammen. Selbstfürsorge ist für die Zeit da, wenn es mir entweder gut oder immerhin nicht besonders schlecht geht. Wenn es mir ganz Scheisse geht, dann (finde ich zumindest) ist der richtige Zeitpunkt da, mich auffangen zu lassen und sich andere um mich kümmern zu lassen.
Aber um beim Zähneputzenvergleich zu bleiben: Wenn es mir längerfristig schlecht geht, halte ich es für gut, trotzdem Selfcare zu betreiben, obwohl das allein nicht hilft. Es hilft nämlich auch nicht, wenn du der Krise noch die Dinge dazukommen, die eintreten, wenn ich meine alltäglichen Selfcaregewohnheiten nicht mehr mache: Rückenschmerzen, Vereinsamung, die Bude sieht aus wie Sau… als ich eine Depression hatte, hab ich mich gezwungen, regelmässig trotzdem raus zu gehen. Ich hatte zwar insgesamt leider wenig Spass an so gut wie allem, aber vielleicht wäre die Depri schlimmer gewesen, wäre ich nur drin gesessen. Ich weiß es im Nachhnein nicht und ich bin nicht scharf drauf, es herauszufinden.

Ich schreibe hier bewusst nichts vom “kämpferischen Feminismus”, weil ich die Einteilung in die zwei Wege “Selfcare oder kämpferischer Feminismus”, wie Steinmädchen sie aufzumachen scheint, sinnlos finde. Politische Kämpfe können Empowerment und Selbstfürsorge oder gegenseitige Hilfe/Bestärkung sein, müssen es aber nicht, und vor allem muss keine Person den Anspruch haben, politische Kämpfe hätten ihre einzige Form der Bestärkung zu sein! Nichts und niemand hindert mich daran, gleichzeitig sanft und selbstfürsorglich zu sein und kämpferisch feministisch.

Selbstfürsorge ist kein Platz für “Check your Privilege”; Trotzdem sind bestimmte Perspektiven zu wenig vertreten.
Warum für mich die Auseinandersetzung mit meinem Privilegiertsein in meiner Selfcare-Praxis nichts zu suchen hat, habe ich hier in meinem Text über meine persönliche Art der Selbstfürsorge schon beschrieben. Dem habe ich hier wenig hinzuzufügen. Besser wäre es meiner Meinung nach, wenn Selbstfürsorgekritik und die “praktische Selbstfürsorge” besser getrennt werden könnten, oder anders: Wenn Selbstfürsorgekritik zusammengehen könnte mit der Einsicht, dass trotz kritischer Punkte die Notwendigkeit für Selbstfürsorge weiter besteht und dass dem irgendwie Rechnung getragen werden muss. (Der Link führt zu einem Text von Moonlitmoth über White Privilege, Selfcare und Community Care, und stellt für mich ein positives Beispiel dar, wie Selfcare als ungenügend kritisiert, aber nicht abgelehnt wird. Und vor allem wie sinnvolle Konsequenzen für einen sozial gerechten Aktivismus aussehen könnten, und wie eine privilegierte Stellung mit der Selfcare-Idee zusammenwirkt)

Ich seh ein, dass einige von uns (und ich bin der typische Typ dafür) mehr Privilegien haben als andere, und mit weniger Gewalt dealen müssen als andere. Auch, sich eine “Bubble” schaffen zu können, in der weniger Mist passiert, ist nicht jeder Person in gleichem Maß möglich. An dieser Stelle verlinke ich den schon etwas älteren, aber daueraktuellen Text von Noah Sow: Hoffnung: Deine Mutter, der mir hier klar die Relationen aufzeigt zwischen dem, was ich erlebe und welchen Dingen ich ausgesetzt bin, und dem Terror, den sie erlebt, wenn sie einfach nur ihren Job machen möchte. Sie schreibt aber auch: “Wir können gerade nicht gewinnen”. Angesichts dessen muss sich mir die Frage stellen, wie ein Überleben trotzdem möglich ist. Wenn die Personen aufgeben oder eingehen, wer gewinnt denn dann?

Esme Grünwald hat hier den Punkt von Selfcare und Privileg auch so besprochen, wie ich es annehmen und verstehen kann:

“Wenn mein Aktivismus darin besteht jeden Tag verteidigen zu müssen, dass ich auch als Angehörige*r von Minderheiten die gleichen Dinge in der Öffentlichkeit tun darf wie andere, gibt es nur bedingt mal Pausen. Wenn ich hingegen Aktivismus hauptsächlich in meiner Organisation mache, das Thema aber für mich gelaufen ist, sobald ich nach Hause gehe – dann habe ich ganz andere Möglichkeiten mich auszuruhen. “Aktivismus oder Selbstfürsorge” kann man sich also nur wirklich fragen, wenn man ausreichend privilegiert ist.”

Aber wie oben schon gesagt: Aktivismus und Selbstfürsorge gehen für mich zusammen und stellen kein “oder” dar. Gerade bei Menschen, für die Aktivismus eben genau nicht gelaufen ist, wenn sie die Tür zu ihrer Organisation zumachen und ins “Private zurückkehren”, ist Selbstfürsorge ein wichtiges Thema. Sie bekommen keine Pause von ihrer eigenen Betroffenheit – aber trotzdem sind Pausen nötig, und niemand ausser ihnen selbst wird ihnen Pausen verschaffen. Menschen werden auf Selbstfürsorge im Prinzip zurückgeworfen, es bleibt ihnen nichts anderes übrig – und das zu bedenken, fehlt mir in der Selfcarekritik von Steinmädchen.

Was mich dazu bringt, dass Selfcare (wenn man danach z.B. bei Pinterest sucht) oft zu eintönig repräsentiert wird. Es sind meist weisse, schlanke Modelfrauen, die in Yogaposen oder mit einer Tasse Tee abgebildet sind und die bestimmte Wellness-Dinge tun. Neben einem Wasserfall herumstehen oder am Strand.

Dies steht in krassem Gegensatz dazu, wer
– Selfcare am meisten nötig hat
– in Selfcare am meisten Kompetenzen hat
– die krassesten, besten Texte (imho) zu Selfcare geschrieben hat.
Und das sind Personen, die krasser Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt sind. Am berühmtesten ist das Zitat von Audre Lorde, eine Schwarze, lesbische Frau, die mit einer schweren Krankheit zu tun hatte, an der sie schliesslich auch starb:

“Caring for myself is not self-indulgence, it is self-preservation, and that is an act of political warfare.”

Das sind queere, trans* Personen of Color. Das sind PoC (People of Color = Selbstbezeichnung von Menschen, die kein “weisses Privileg” haben) die chronisch krank sind, das sind Arme im globalen Süden oder aus dem globalen Süden, die auf überlieferte Methoden zurückgreifen und sie kultivieren, weil sie im westlichen Gesundheitssystem keinen Platz bekommen und im Stich gelassen werden. Hier geht es ums nackte Überleben in einem System, welches von der systematischen Ausbeutung und Zerstörung bestimmter Gruppen von Menschen lebt. Selfcarekritik muss mindestens im Blick behalten, dass es hier eine Unterscheidung gibt und sie muss mindestens klar machen, auf wessen Selfcare sie sich bezieht.

– Hier sollten eine Menge Links stehen, zu Texten, die ich vor 4 Monaten las und super fand. Ich habe jetzt allerdings die Zeit nicht, alle Texte nochmal rauszusuchen, und ich habe auch nicht mehr in Erinnerung, ob und wo ich die aufgelistet habe.
Deshalb erstmal nur noch mal:

(sorry für die fehlenden links.)

Soviel erwarte ich an Solidarität gegenüber Menschen, denen es noch weitaus beschissener geht als mir und den meisten, die Kritik austeilen. (Und auch gegenüber z.B. Aktivist_innen, die sich von wenig Geld eine DIY Selfcare Praxis angeeignet haben, oder gegenüber Menschen, die schwerst körperlich schuften und die ohne bestimmte Selfcare Praxen nach 5 Jahren körperlich verschlissen wären.)
Wenn Selbstfürsorge im Zusammenhang mit Privilegien in der Kritik stehen soll, dann sollte es eher kritisiert werden, wenn weiße wohlhabende Menschen sich die Selbstfürsorgepraxen und -Texte von Trans*, queeren Personen und Frauen* of Color aneignen, sie dabei womöglich noch kommerzialisieren und als eigene Entwicklungen verkaufen, und die Erschaffer_innen selber nicht genügend repräsentiert und anerkannt sind.

Es ist zu deinem Besten!
Das Problem mit der Pathologisierung habe ich in meinem letzten Selfcare Text schon angeschnitten, und da wollte ich drauf hinaus, dass Selfcare nicht automatisch pathologisiert. Das Problem ist, dass etwas, was wirklich zu meinem Besten ist (z.B. Therapie, Entspannung, Selbstpflege) zu einem Akt der Gewalt wird, wenn es aufgezwungen wird. Dabei gibt es nicht nur den tatsächlichen Zwang mit Gewalt, sondern das stuft sich ab bis hin zu kaum bewusstem gesellschaftlichen Druck, einem bestimmten Bild einer fitten Person zu entsprechen.
Insofern kann ich die Kritik an dieser Stelle sehr gut verstehen. Was leider unbeachtet bleibt, ist aber, dass die selben Dinge, die einigen mit Gewalt oder Druck aufgenötigt werden, tatsächlich zu meinem Besten sein können, wenn ich selbstbestimmt damit umgehen kann/die Chance dazu habe.

Ich habe neulich auf Twitter gelesen, dass eine schrieb: “Meine Therapie ist nicht systemstützend. Meine Neurose ist systemstützend, weil sie mein Anpassungsmechanismus war. Meine Therapie hat mir die Kraft gegeben, unangepasst zu sein.”

Leider weiss ich nicht mehr, wer das gezwitschert hatte, und ich habe es auch nicht wiederfinden können. Ich bin mir selbst mit dem Thema sehr uneins, weil ja: Psychiatrie und das Ganze drumrum ist sicherlich ein gewalttätiges System. Trotzdem ist Leiden – und grad auch psychisches Leid – ja auch real. Der einzelne Mensch steckt dann in einer Zwickmühle und hat die Aufgabe, sich irgendwie mit dem eigenen Leiden auseinanderzusetzen und Heilung zu finden. Das kann dann geschehen in einem System, das helfen kann, das aber auch pathologisiert und gewaltförmig ist.

Ich war nie einem psychiatrischen System ausgesetzt. Ich habe mal eine Psychotherapie gemacht, mit der ich sehr Glück hatte, die mich ermächtigt und gestärkt hat.
Da ging es auch um Selfcaremethoden, wie Prioritäten, To-Do-Kram, Meditation, Entspannung, aber auch und vor allem um Klartext reden und Selbstbehauptung und dem Widerstehen und Umgehen mit Druck von Anderen/von Aussen.
Ich kann mir vorstellen, dass wenn sowas nicht so “gut” verläuft, und eben die gleichen Selfcaremethoden unter Vorzeichen von mehr Anpassung und mehr “Funktionieren” gelehrt werden, dass sie dann ein anderes “Gschmäckle” kriegen.

Fazit ist aber, für mich sind das alles erst mal “neutrale” Methoden, und erst ein Zusammenhang/ein System macht sie zu Werkzeugen von Befreiung oder eben auch Unterdrückung. Die Kritik war, so wie ich es verstanden habe: “Wie kannst du diese Methoden einfach so gut heissen, ohne zu bedenken, aus welchem System sie eigentlich kommen?”
Scheint mir legitim.
Mit bedenken scheint mir legitim.
“Wie kannst du diese Methoden gut heissen, obwohl du weisst, aus welch schlimmen System sie eigentlich kommen?” scheint mir nicht legitim. Das ist mir zu hart, da fehlt mir die Alternative. Ich bin mir aber nicht sicher, ob die Kritik so weit gehen wollte.

Entsprich dem Bild vom glücklichen, gesunden, fitten Menschen!

Das ist hiervon ein Unterthema. Was, wenn ich Selfcare mache auf gesellschaftlichen Druck hin, einer Norm zu entsprechen? Wenn ich mich besser ernähren will zum Beispiel, weil ich denke, ich bin zu fett? Oder wenn ich anfange zu meditieren, weil ich denke, ich bin zu gestresst und zu unglücklich?

Norm ist nicht gleich Norm, und ich finde als Beispiel gut, den Unterschied zu sehen zwischen: fett<3 sein (benutze ich als empowernden, positiven Begriff für eine bestimmte Körperform. Weil ich selbst nicht fett bin und mir den Begriff nicht so positiv aneignen kann wie Betroffene, hab ich mich entschieden, ein Herzchen-Zeichen dahinter zu machen, um das Wort "Fett" als etwas positives/schönes zu kennzeichnen) und gestresst sein. Fett<3 sein ist bei weitem nicht so schädlich, wie es propagiert wird. (Link zu dem Blog “dances with fat” wo es mehr Infos dazu gibt). Auch wenn ich noch so selbstbestimmt abnehme und zu den “glücklichen” 5% gehöre, die das niedrigere Gewicht beibehalten können, ändert das nichts dran, dass ich allein durch das Abnehmen kaum Gesundheitsboni bekomme. Ich werde da meine Zeit und Kraft reingesteckt haben und je nach Methode vielleicht noch meinen Körper geschädigt haben (Magenverkleinerung, Abnehmdrogen, Mangeldiäten). Hier finde ich es gut und sinnvoll, sich der Normierung zu verweigern und die Idee stark zu machen, dass Körper aller Grössen und Formen in Ordnung sind!

Gestresst sein, und hier meine ich chronischen, negativen Stress, der bewirkt, dass die körperliche Stressreaktion ständig unterschwellig abläuft, ist aber sehr wohl schädlich. Wenn ich es schaffe, weniger Stress zu haben, tut mir das (behaupte ich jetzt mal) immer gut, egal welchen Normen ich damit vielleicht entspreche. Es macht für mich deshalb keinen Sinn, Stressbewältigung abzulehnen, und es macht keinen Sinn, zu sagen: Alle Stresslevels sind okay und gut! Sind sie nämlich nicht.

Das Problem mit chronischem Stress ist nicht, ob ich mittels Selfcare etwas für mich tue oder nicht, sondern die gesellschaftliche Sichtweise auf Stress und das gesellschaftliche Schuld-auf-die-Einzelperson schieben _bei_ einem Zusammenbruch durch Stress.
Die Gesellschaft sagt, dass mein Leiden an Stress allein mein Problem sei (während ich z.b. unter Stress aufgrund von struktureller Diskriminierung leide).
Wer unter Stress zerbricht, ist halt zu schwach oder krank oder nicht gut genug.

Steinmädchen schreibt:

“In all diesen Selbstfürsorge-, Selfcare- und importierten Achtsamkeitsvorstellungen geht es um eine individuelle Problemlösung. Nebenbei wird das Problem oft erst geschaffen, dass dann gelöst werden muss, durch genormte Bedürfnisse und Konstruktionen von Wohlbefinden. Durch die Konstruktion von Krankheiten, die fröhlich reproduziert werden.”

Ich würde es zunächst nicht “Problemlösung” nennen. Stress, der z.B. durch Diskriminierung entsteht, löst sich nicht auf, wenn ich mich dem Selbsterhalt widme. Zweitens habe ich gerade von Stress geredet, um klar zu machen, dass eben nicht alles ein Konstrukt ist, dem ich genausogut auch _nicht_ entsprechen könnte und es ginge mir ebenso gut. Eben dies: Nicht alle dauerhaft bestehenden Stresslevels sind auch gleichermassen okay!

Dazu mal ein anderer Blickwinkel:

” Lorde’s reference to “political warfare” is a nod to the idea that rejecting self-care in the name of money, progress, success, or getting ahead is not a problem that only plagues individuals. This problem is encouraged by society—by where we place our values, how we talk about success, and how we shame those who don’t measure up. Stress is experienced by individuals, but the pressure to feel stress—just to prove that you are working “hard enough”—comes from a collective worldview that often rejects self-care and calls it selfishness. The individual is no longer important, because she is just a cog spinning in an ever-larger machine.”
Feminspire: On the radical act of selfcare von Brenna McCaffrey

(dt. grob übersetzt: Lordes Gebrauch des Begriffs “politische Kriegführung” bedeutet, dass das Zurückweisen von Selbstfürsorge in Namen von Geld, Fortschritt, Erfolg oder persönlichem Fortkommen kein Problem einzelner Individuen ist. Dieses Problem wird von der Gesellschaft gefördert – von unseren Werten, wie wir über Erfolg sprechen, und wie wir die Leute aburteilen und beschuldigen, die den Ansprüchen nicht gerecht werden. Stress wird von Individuen erlebt, aber der Druck, gestresst sein zu müssen – zu beweisen, dass du “hart genug arbeitest – kommt von einer kollektiven Weltsicht, die Selbstfürsorge zurückweist und sie Eigennutz nennt. Das Individuum ist nicht länger wichtig, weil es nur als Rädchen im Getriebe gesehen wird.”)

Sehr spannend ist, dass Brenda McCaffrey genau den Gegenteiligen Schluss aus dem Selfcarediskurs zieht als Steinmädchen. Für sie ist der Zwang zur Selbstoptimierung, zu immer mehr Leistung, genau das, was eben keine Selbstfürsorge ist, und Selbstfürsorge nimmt in den Blick, dass diese Ausbeutungsstrukturen kein individuelles Problem sind, sondern ein kollektives Problem. Selbstfürsorge aus dieser Sicht ist empowernd, weil sie die Einzelperson berechtigt und ermächtigt, eben dem Zwang zu Optimierung und Leistung ohne Pause und ohne Berücksichtigen der eigenen Bedürfnisse zu widerstehen.

Steinmädchen übt auch Kritik an diesem Leistungsdenken, unter der Überschrift “Ich bin Aktivistin, ich darf das”, aber es fehlt hier eine andere Möglichkeit; anstatt “ein legitimes Recht auf Selfcare für Alle” zu fordern, auch diejenigen, die aktivistisch aus Gründen keinen Finger rühren können, folgt einfach gar keine Konsequenz, bis auf diejenige, dass Aktivismus das Einzige ist, was empowert und dabei nicht das System stützt. Unterm Strich ist das eine Aufforderung zum Aktivismus bis die Batterie alle ist, und wenn sie überhaupt alle wird, dann ist der Aktivismus falsch gemacht worden oder er ist richtig durchgezogen worden, aber die Verhältnisse sind eben schuld daran.

Zur ökonomischen Dimension: Es wurde kritisiert, und zwar hier bei kleinerdrei, dass Selfcare ja wiederum dazu diene, “fit zu bleiben als Rädchen im Getriebe” (Jule) und “in einem Kacksystem in einer Kackposition weiter fit sein zu können“(Steinmädchen). Bezug genommen wurde da auf den Kommentar von Sturmfrau, in dem diese erzählt, eine Bekannte von ihr würde ihre Bedürfnisse nicht ausdrücken, hätte vor lauter Aufopferung ein Burnout Syndrom und Depressionen, und sie würde sich hin und wieder mit den landläufigen Selfcare-Methoden notversorgen damit sie irgendwie weiter machen kann mit ihrem Hausfrauendasein, Mann und Kinder versorgen.

Nicht nur wird dabei unterschlagen, dass es in den Selfcare-Texten in feministischen Blogs keine einzige Person vorschlägt, Selfcare solle das Laut-sein und das Aufbegehren, das für-sich-Eintreten ersetzen. Sondern es wird auch unsichtbar gemacht, dass bei mir und auch bei Anne neben den “üblichen” stillen und entspannenden Praxen (die möglicherweise überwiegen, wenn es Tips zu Selfcare gibt) auch laute, gesellige und “böse” Praktiken zur Sprache kamen. Ich habe z.B. explizit von “Nein sagen, Klartext reden” geschrieben. Das wird ignoriert. Dadurch habe ich den Eindruck, die Kritik schneidet sich die Realität auch gern so zu, dass sie ihre Gültigkeit nicht verliert. So funktioniert aber eine Diskussion nicht.

Aber das eigentliche Problem mit der ökonomischen Dimension ist, dass es am Problem vorbei geht, wenn das Verhalten Einzelner (Selfcare) in der Kritik steht. Das wäre, wie wenn ich sage: “Weil DU den Müll nicht trennst, geht der Planet kaputt, wenn JEDE Person den Müll trennen täte, dann wäre der Planet ökologisch geheilt”. Das ist aber Blödsinn, weil jegliches Konsum- und Abmilderungsverhalten einzelner Menschen das System nicht stürzen würden. Das war wenn ich mich nicht irre, der Hauptkritikpunkt des Öko-Anarchisten Murray Bookchin an bürgerlichen Ökobewegungen. Ändern tun nur ökologische Aktivitäten etwas, die gleichzeitig für soziale Gerechtigkeit und gegen den Kapitalismus kämpfen, und die mit dem Zusammenschluss von Menschen laufen, und die die Rechte der Armen im Blick haben.

Genauso würde ich sagen, sind individuelle Selfcare-Methoden oder Nicht-Methoden weder systemstützend noch systemzerstörend. Die Frage kann nicht sein: “Und – wenn du dann schön fit bist, biste dann wieder schön ein Rädchen im Getriebe?” sondern meines Erachstens wäre die ökonomische Dimension von Selfcare dahin zu sehen, was Selfcare für eine Rolle im gesamten Gesundheitssystem spielt. Wir müssten von 2-Klassen-Medizin reden und von der Privatisierung des Gesundheitssektors und wären dann wieder beim Neoliberalismus.
Klar ist es ein Problem, wenn die Verantwortung für das eigene Wohlbefinden wieder bei der einzelnen Person hängt und jede_r eben zusehen kann, wo sie bleiben! Ich sehe z.B. auch, dass meine Hausärzt_innenpraxis einen Haufen an Wellness- und Privatleistungen gegen Geld verkauft, weil der Gesundheitssektor immer mehr zum Markt wird, wo es halt um Profit geht. Klar, es gibt Selbstfürsorge-Propaganda, die einen Spa-Besuch und sonstige Dinge vorschlägt, die viel Geld kosten und die sich viele nicht leisten können. Aber die Diskussion bezog sich nicht auf Texte, die so waren. Hier ging es um die Selbstfürsorge von finanziell ziemlich benachteiligten Menschen, es ging um DIY Selfcare.

Ich finde es einen Schwachsinn, wenn z.B. eine Arbeiter_in, eine Person, die “Schwerstarbeit” macht und die finanziell grad so über die Runden kommt, gebasht wird, wenn sie Yoga macht und laufen geht, wäre das z.B. “privilegiert”. Während Selbstfürsorge und, wenn ihr so möchtet, “eigenständige Gesundheitspflege” immer mehr das Einzige ist, was Armen in einem privatisierten, auf Profit ausgerichteten Gesundheissystem noch übrig bleibt. DAS ist die verdammte ökonomische Dimension, wenn du mich fragst!

Kritik an Selfcare, die ökonomische Dimensionen ansieht, muss meiner Meinung nach ähnlich vorgehen, wie feministische Kritik an ungeschätzter und unentlohnter Repro-Arbeit. (Erklärung: Reproduktionsarbeit, wie putzen, kochen, Kinder erziehen) Ich glaube kaum, dass irgendwer fordert, Repro-Arbeit habe zu unterbleiben und wir sollten lieber im eigenen Dreck sitzend fasten und die Kinder nicht mehr betreuen. Da geht es um die Verteilung von Arbeit, darum, wer ausgebeutet wird und wer wirtschaftlich davon eigentlich Nachteile hat, dass die Arbeit so geteilt und verteilt wird.
Genauso dürfte ökonomische Kritik an Selbstfürsorge nicht so tun, als wäre Selbstfürsorge an sich schlecht, sondern sollte sich überlegen, wer sie aufgrund welcher ökonomischen Zwänge wie leistet und wie eigentlich Belastungen und Unterstützung, und Hilfe und Erholung verteilt und zugänglich sind. Es müsste um Sozialabbau und Privatisierung gehen.

Und wir müssten sehen, dass der Weg nicht ist, zu überlegen, ob Selfcare das System stützt oder nicht, denn Selfcare war nie dazu da, das System zu stürzen. Der Weg ist und bleibt, sich gemeinsam zu organisieren und sich Gerechtigkeit zu erkämpfen. Das ich sowas noch extra dazu sagen muss, finde ich eigentlich erschreckend.

Ganz davon abgesehen finde ich es erschreckend, wenn in der Kommentardiskussion auf kleinerdrei eine Frau, die sich für Mann und Kinder aufopfert und ihre Bedürfnisse nach hinten schiebt, als Beispiel genommen wird, wie Selfcare das System stützt, und das wird auch noch als Einbeziehen der ökonomischen Verhältnisse verkauft. Hallo? Schon mal überlegt, welche ökonomischen Faktoren beteiligt sind daran, dass viele Frauen sich für Mann und Kinder abrackern? Das ist 1970er Feminismus! Bekannt seit fast 50 Jahren! Schon vergessen? Wie beknackt ist das denn? Feministinnen* die ökonomische Verhältnisse in Zusammenhang mit Reproduktion ignorieren und unsichtbar machen, um zu kritisieren, dass ökonomische Verhältnisse nicht mitbedacht werden? Feministinnen, die es Frauen* ankreiden, wenn sie versuchen, in einem System, das sie ausnimmt, irgendwie klarzukommen und zu überleben? Thanks so much. Nicht.

Und wie eidechse hier schrieb:

Notiz:
-wir müssen neben “aktivismus”, “queer-feministischer notwendigkeit”, “burn out”, “depression” “selfcare” auch über “Lohnabhängigkeit” reden.

Ja, unglaublich aber wahr: Menschen machen sich nicht freudig fit zum funktionieren im System: Es bestehen Abhängkeiten. Darüber müssen wir auch reden!

Und das soll auch der Schluß dieses Textes sein.
Mich entsetzt an Selfcare-Kritik tatsächlich am meisten, dass ökonomische Abhängigkeiten und neoliberaler Sozialabbau so wenig, so gar nicht angegriffen werden, und statt dessen die Methoden von Leuten zerlegt werden, die innerhalb der immer kälter und härter werdenden ökonomischen Verhältnisse zu überleben versuchen.

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Anm: Ich schrieb diesen Text Mitte November 2013. Seitdem wurde weiteres geschrieben, weiter diskutiert, aber ohne mich. Ich bitte, die fehlenden Bezüge zu aktuellen Texten zu entschuldigen.
Ausserdem habe ich in der Diskussion des letzten Jahres oft das Gefühl gehabt, dass die “Selfcarekritik”, die ich hier kritisiere, eigentlich auf etwas anderes hinaus möchte, als das, was ich hier bespreche. Es ist mir nie gelungen, zu verstehen, auf was. Ich habe nur das verstanden, was ich verstanden habe. Darauf gründe ich hier meine Kritik. Inzwischen befasse ich mich mit anderen Themen und fühle mich unmotiviert, einen weiteren Versuch des Verstehens zu machen, der wahrscheinlich nur wieder scheitern würde. Deshalb bin ich auf diesen Text hin nur begrenzt fähig, eine tiefgehende Diskussion zu führen. Ich veröffentliche ihn heute trotzdem, damit er nicht noch ein halbes Jahr auf der Platte herumgammelt. Diskutiert ihn gerne, aber entschuldigt, wenn von mir vielleicht weniger kommt, als die “kämpferische” Form dieses Textes eigentlich nötig macht.